Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg erklärt das mit einem „extremen Wirklichkeitsverlust“. Der führe dazu, dass man „das Elend der ganzen Welt“ aufnehmen wolle. Damit stärkten Grüne aber Rechtsextreme.
Peter Graf Kielmansegg: Jeder fünfte Wähler kann sich mittlerweile vorstellen, die AfD zu wählen. Das spricht zweifellos für eine gravierende Entfremdung. Schwierig einzuschätzen ist, wie tief diese Erosion reicht. Sie dringt aber wohl bereits in Tiefenschichten vor, betrifft also nicht mehr nur Akteure wie Parteien und Politiker, sondern unsere politische Ordnung im Ganzen.
Dass die Demokratie dauerhaft eine Zukunft hat, ist keineswegs mehr so sicher, wie wir das 1989/90 meinten. In den USA konnte ein Mann wie Donald Trump das Vertrauen in die Wahlen, einen Grundpfeiler der Demokratie, erschüttern und wird womöglich trotzdem erneut Präsident.
Seit 15 Jahren jagt eine Krise die andere mit Folgen, die die Bürger sehr unmittelbar zu spüren bekommen. Nach dem auf Beruhigung ausgerichteten Politikstil der Merkel-Ära sind die Bürger unvorbereitet mit diesen geballten Herausforderungen konfrontiert. Da kommen Ohnmachtsgefühle auf. Die Erosion des Vertrauens ist aber auch ein Zeichen der Überforderung der Politik.
Zum einen haben wir eine von einem starken Lobbyismus vorwärtsgetriebene Sozialstaatsdynamik, die auf dem Prinzip beruht: Es ist nie genug. Zum anderen spielt die jahrelang durchgehaltene Politik der offenen Grenzen eine wesentliche Rolle. Hier kommen die Grünen ins Spiel, deren politischer und gesellschaftlicher Einfluss weit über das hinausgeht, was eigentlich dem Wählerstimmenanteil entspräche.
Das erzeugt Frustration und Ärger bei jenen, die sich nicht wiederfinden in der grünen Agenda. Den Wahlergebnissen nach ist das die Mehrheit im Land. Das Empfinden, trotzdem nicht berücksichtigt zu werden, führt zum resignativen Rückzug oder zur aggressiven Attacke.
Die Legitimationskrise ist einer von vielen Gründen. Die Omnipräsenz von Gewalt in den sozialen Medien ein anderer; die Tatsache, dass unsere Gesellschaft nicht mehr den Willen und die Fähigkeit besitzt zu erziehen, ein dritter. Alle diese Enthemmungen wirken in die gleiche Richtung: Wenn die Gewaltfreiheit als tragendes Prinzip der Demokratie infrage gestellt wird, dann ist unsere Ordnung elementar gefährdet.
Es gab zweifellos Lernprozesse in der Partei, der Ukraine-Schock beispielsweise nötigte sie, sich von ihrem Pazifismus zu lösen. Ihre vielfältigen Koalitionsoptionen rühren aber maßgeblich daher, dass umgekehrt die jeweiligen Partner sehr zur Anpassung bereit waren.
Gerade die Union ist den Grünen weit entgegengekommen. In Baden-Württemberg ließ sich das beobachten, auch in Nordrhein-Westfalen. Ausschlaggebend für die starke strategische Position der Grünen ist aber neben Wählerstimmen ein anderer Faktor.
Die Grünen werden weithin als die Partei wahrgenommen, die sich konsequent der Jahrhundertaufgabe der ökologischen Transformation unserer Zivilisation stellt. Mit diesem hohen moralischen Anspruch konnte sich die Partei zum politischen Sprachrohr eines Milieus machen, das zentrale gesellschaftliche Bereiche dominiert. In diesem Milieu versteht man sich als progressive Vorhut, die es besser weiß und belehrend den Weg weist.
Neben den öffentlich-rechtlichen Medien sind das etwa Hochschulleitungen, Teile der evangelischen Kirche, viele Einrichtungen des kulturellen Betriebes oder bestimmte Sektoren des öffentlichen Dienstes. Diese Institutionen und Akteure wirken alle weit in Öffentlichkeit hinein. Als mit diesem Milieu eng verbundene Partei können die Grünen gesellschaftliche Diskurse prägen.
Dass die ökologische Transformation eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahrzehnte ist, wird nur von wenigen Menschen infrage gestellt. Die Grünen sind aber zugleich die politische Speerspitze einer Bewegung mit kulturrevolutionären gesellschaftlichen Zielen.
Hier ist zum Beispiel die Sprachpolitik zu nennen. Ohne Rücksicht auf Mehrheitsmeinung oder Sprachgeschichte soll über das Gendern das Denken verändert werden. Am stärksten und folgenreichsten schlägt die grüne Grundeinstellung, dass moralische Imperative in Politik umgesetzt werden müssen, ohne der Wirklichkeit einen Einspruch zu gestatten, freilich in der Asylpolitik durch.
Das Asylthema ist so etwas wie die letzte Bastion für die grüne Grundhaltung, die Politik und Moral vollkommen zur Deckung bringen will. Diese Bastion wird ähnlich vehement verteidigt, wie eine religiöse Gemeinschaft für ihr Glaubensbekenntnis kämpfen würde. Schon die Hinnahme des europäischen Kompromisses war in diesem Sinne ein häretischer Akt. Die Parteiführung hat sich auf dem Parteitag zwar durchgesetzt, aber nur mit extremer Anstrengung.
Die innerparteiliche Opposition zeigt mit ihrer Vorstellung, wir könnten und sollten das Elend der ganzen Welt bei uns aufnehmen, einen extremen Wirklichkeitsverlust. Die AfD verdankt ihre Stärke im Wesentlichen der Tatsache, dass sich die Politik als unfähig erwiesen hat, auf den Massenzustrom von Migranten eine angemessene Reaktion zu finden. Insofern haben die Grünen ihren Teil dazu beigetragen, dass wir jetzt einen beunruhigenden Rechtsextremismus im Land haben.
Dazu trägt auch der durch einen gewissen Hochmut geprägte Stil bei. Sie haben nie eine große Kraft entwickelt, Andersdenkende zu überzeugen und mitzunehmen. Im Gegenteil: Diskussionsspielräume werden bedenklich eingeengt, indem Kritik an der Politik der offenen Grenzen als „rechts“ – gleichgesetzt mit rechtsextrem – etikettiert und diskreditiert wird.
Trotzdem sehe ich nicht, dass die Grünen aus dem politischen Spiel herausgedrängt werden. Dazu ist ihre strategische Position zu stark. Dreierkoalitionen werden in der zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft in vielen Fällen die einzige Option bleiben. Und dann sind die Grünen immer drin.
Mari Horn
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus248859726/Gruene-haben-nie-grosse-Kraft-entwickelt-Andersdenkende-zu-ueberzeugen-im-Gegenteil.html?fbclid=IwAR088_fySxIOhDJlm0gHCyMR4h_oT1H6oxvigYeCTCwCusM7RQjzBk6BXXQ